Liebe FreundInnen Haitis,
vielleicht erinnert Ihr Euch noch, dass ich vor Wochen davon berichtet habe, dass einige unserer Studenten einen Dolmetscherjob für eine andere Organisation erhalten hatten, die auch ganz angetan von den jungen Erwachsenen war. Mittlerweile sind die Therapeuten von stARTnicht mehr im vorbereitenden, sondern schon im "richtigen" Einsatz. Einen ersten Zwischenbericht der "traumatherapeutischen und psycho-sozialen Betreuung für erdbebenbetroffene Kinder und Jugendliche" haben wir erhalten. Vielleicht seid Ihr auch daran interessiert?:
"Ich schrecke aus dem Schlaf. Lautes Geschrei umgibt mich. Das Feldbett neben mir ist leer. Meine haitianische Bett-Nachbarin, mit der ich gestern Abend vor dem Einschlafen noch lange über dies und das, über Haiti vor und nach dem 12. Januar, über unsere Arbeit mit den Kindern und über ihre eigenen tiefen Hoffnungen und Wünsche für sich und dieses wunderschöne Land gesprochen habe, ist bereits auf den Beinen. "Schnell, komm!", ruft sie. Ich verstehe nicht. Alle rennen aus dem Schlafsaal ins Freie. Ich verwirrt und verschlafen hinterher." - So berichtet mir meine deutsche stART-Kollegin, Bewegungspädagogin und Eurythmietherapeutin, nach ihrer Rückkehr aus Haiti.
Sie befand sich während dieses Ereignisses in Leogane, einer Kleinstadt unweit von Port-au-Prince, durch das Erdbeben vom 12. Januar 2010 fast vollständig zerstört. Hier geben wir, das stART international-Team, unseren ersten mehrtägigen Vollzeit-Workshop für haitianischen SozialarbeiterInnen und PsychologInnen zu Fragen künstlerischpädagogisch-therapeutischer Ansätze in der traumatherapeutischen und psycho-sozialen Betreuung der unendlich vielen Kinder und Jugendlichen in den zahllosen Lagern, Waisenhäusern und Krankenstationen Haitis.
In der beschriebenen Nacht, es ist der 15. April 2010, wurde die Erde rund um Léogâne erneut von kleineren Beben erschüttert - so heißt es jedenfalls. "Ich habe nichts gespürt.", sagt meine Kollegin. Aber alle Haitianer waren sich sicher "Die Erde hat wieder gebebt." Die Angst, das ist mehr als offensichtlich, steckt allen, die das Erdbeben im Januar miterlitten haben, tief in den Knochen. Es gibt kaum einen Haitianer, der nicht auf dramatische Weise geliebte Menschen oder das Zuhause verloren hat. Die Geschichten, die berichtet werden, sind schwer zu verdauen. Wie die eines Sozialarbeiters, Teilnehmer an unserem Workshop. Seine Frau wurde während der Geburt des zweiten Kindes von der Naturkatastrophe ereilt und verlor ihr Leben - zusammen mit dem noch ungeborenen Kind und der dreijährigen Tochter. Da ist mit einem Schlag die gesamte Familie nicht mehr da, das Heim zerstört, nichts mehr wie vorher - und dennoch, der junge Mann macht weiter. Als Sozialarbeiter nimmt er sich der Kinder um ihn herum an. Was für ein Mensch? Welch innere Größe? Es freut mich, dass wir ihm wenigstens unter professionellem Gesichtspunkt beistehen können, ihm neue Ideen für seine Arbeit mit den Kindern geben, uns über den Bereich "Traumatisierung" austauschen, im Üben von heilsamen Kinderspielen selber wieder gemeinsam ins Lachen finden können - wenigstens für einen kurzen Moment. Die meisten der haitianischen Kollegen beschließen den Rest der Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Nur die Europäer und US-Amerikaner kehren in den Schlafsaal zurück. Wer den 12. Januar nicht am eigenen Leibe miterlebt hat, findet zurück in einen ruhigen Schlaf. Wo die Gedanken der anderen sind, können wir uns nur am Rande ausmalen.
21. April - es ist ein warmer, lichter Morgen in Port au Prince. Unsere haitianische Kollegin Guerline, die uns bei der psycho-sozialen Arbeit mit traumatisierten Kindern unterstützt, kommt an den Tisch und gemeinsam bespricht das stART-Team - heute sind es vier Europäer und vier Haitianer - wie in zwei Zeltlagern der Stadt bei der Arbeit mit den Kindern vorgegangen werden soll. Auch Guerline hat das Dach über ihrem Kopf im Januar verloren und lebt nun bei Freunden - im Innenhof unter freiem Himmel. "Heute Nacht hat es doch geregnet. Was hast Du gemacht?", fragt unser Kollege. "Bei Regen spanne ich einen kleinen Regenschirm über meine Liege. Das geht eigentlich ganz gut." Uns fehlen die Worte - schweigend wenden wir uns wieder der Arbeit zu.
Seit über vier Wochen arbeiten wir täglich mit Kindern in verschiedenen Lagern und Waisenhäusern - die ja eigentlich keine Waisenhäuser sondern vielmehr Waisenzelte sind. Jeder Grünstreifen, jede Verkehrsinsel, jeder ehemals freie Platz der Stadt steht voller Zelte. Angrenzend türmen sich Müllberge, die häufig auch für die tägliche Notdurft benutzt werden. Wohin sollen die Menschen auch anders gehen. Das Ausmaß der Zerstörung ist unfassbar groß. Wann das einmal wieder anders werden soll, weiß keiner zu sagen. In den Lagern kommen uns die Kinder schon entgegen. Sie erwarten uns, wissen genau, wann wir kommen werden. Die Schulen haben zum Teil zwar ihren Tätigkeit schon wieder aufgenommen, dennoch gibt es aber viele, viele Kinder, die in ihrem bisherigen Leben eine Schule noch nicht einmal von außen, geschweige denn von innen gesehen haben. Für sie sind wir die einzige Abwechslung in einem von Tristesse und Aggression geprägten Alltag.
Ein Lager ist kein kinderfreundlicher Ort. Zelt steht an Zelt - für Spielen bleibt weder physischer noch seelischer Raum. Es ist heiß. Unter den Plastikplanen, die vor Regen und Sonne schützen sollen, staut sich die Hitze. In diese Situationen versuchen wir, ein bisschen Kindheit zu bringen - und dann noch so, dass das, was wir mit den Kindern tun, heilsam wirkt und das seelische Leben der Kinder stärkt. Jede Tätigkeit, jede Kleinigkeit, die ein Kollege oder eine Kollegin mit den Kindern macht - ob es nun Malen, Seilspringen, Singen, Tanzen, Instrumente-Herstellen oder das Vorspielen eines kleinen Märchens ist - wird aufgesaugt und angenommen, wie Wasser in der Wüste. Selbst die 14-jährigen Jungs setzen sich interessiert in den Kreis und versuchen sich andächtig in der Herstellung von Wollpüppchen. Im Kinderkreis daneben erklingt ein rhythmisches Lied. Unser Kollege klatscht, springt und stampft mit den Kindern. Gemeinsam wird auf selbst hergestellte Rasseln und Klanghölzern gespielt. Und die Kinder lachen - sie sind stolz und glücklich. Dass die Arbeit Früchte trägt, merken alle. Denn die Kinder finden hier einen Ort der Ruhe und Zuwendung, in dem sie selbst im Mittelpunkt stehen können. Und das reduziert die Aggression erheblich und schafft heilsamen, seelischen Innenraum.
Dass dies möglich ist und wir vielen Hunderten von Kindern in Haiti in ihrer Not beistehen können, verdanken wir den Spenden vieler, vieler Menschen und Stiftungen. Dafür möchten wir von ganzem Herzen unseren Dank aussprechen.
Barbara Schiller
http://www.start-international.org/
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