Montag, 13. September 2010

behandlung kranker kinder

Liebe alle,


diesen Bericht habe ich jetzt schon ein paar Tage vor mir hergeschoben, und ihn sogar nachts gewälzt, weil ich nicht wusste, wie ich meine Erfahrungen in Worte fassen sollte. Es geht um unser kostenloses Behandlungsprogramm für Kinder am Krankenhaus Notre Dame de Lourdes. Einen Tag lang wollte ich mir Zeit nehmen, um zu sehen, wie der Andrang, die Aufnahme, die Behandlung und am liebsten auch die schnelle Heilung wirken. Aber schon im Wartesaal erlitt ich meinen ersten Schock: Auf den ersten Blick sah es so aus, als säßen lediglich Abziehbilder von Kindern auf den Stühlen. Bis auf kurze Stöhner oder ein leises Wimmern war nichts zu hören. Die Bewegungen der Wartenden liefen wie in Zeitlupe ab, wohlüberlegt wie von arthrosegeplagten Senioren, und doch handelte es sich um Kinder, die ihr Teenageralter noch nicht erreicht hatten.

Wie mir von allen Seiten berichtet wird, ist der Bedarf an medizinischer Versorgung riesig. Seit die meisten Nothelfer im Juli abgezogen sind, ist die medizinische Hilfe wieder auf dem übelsten Niveau. Allerdings sind wegen des Bebens viele Menschen zusätzlich hilfsbedürftig geworden, so dass sich die Lage eindeutig verschärft hat. Außerdem funktioniert der Nachschub an Verbandsmaterial und Medikamen-ten nicht so, wie er sollte. Auch "unsere" Klinik - sie wird nicht von uns betrieben, die Haiti-Kinderhilfe hat nur den Bau finanziert - musste vorübergehend geschlossen werden, weil die Bestände aufgebraucht waren. Was für eine Katastrophe das für die Patienten sein musste, mag ich mir gar nicht vorstellen.

Seit der Wiedereröffnung des Krankenhauses werden innerhalb des Programms 30 Kinder am Vormittag aufgenommen und behandelt, Tendenz rasant ansteigend. Unsere Controller Miracle und Claudy haben alle Hände voll zu tun, um die Krankenakten inklusive eines Fotos der PatientInnen zusammenzustellen, die Ausgaben zu belegen und alles - wenn es gerade Strom gibt - im Computer zu erfassen, damit wir sicher gehen können, dass unsere Ausgaben gerechtfertigt sind. Anfangs habe er nicht so gut mit den kranken Kindern umgehen können, meinte Claudy. Jetzt habe er mehr Erfahrung und wisse, wie man auch die schwierigsten Fälle dazu bringe, kurz für ein Bild stillzuhalten... Zur echten Versorgung der PatientInnen hat die Haiti-Kinderhilfe ja außerdem zwei Krankenschwestern angestellt. Ich bin zwar nur Laie, aber sie haben auf mich einen kompetenten Eindruck gemacht, und wussten genau, was sie wann wie zu tun hatten. Alle 60 Minuten hält eine der beiden im stets überfüllten Wartezimmer einen Vortrag zu Hygienevorkehrungen, Malaria und Verhütungsmethoden, um die Begleitpersonen der Kinder zu unterrichten. Die Kinder selbst sind in so schlechtem Zustand, dass die meisten kaum wahrnehmen, wenn sie direkt angesprochen werden.



Am meisten mitgenommen hat mich der Fall der zweijährigen Berline. Ihre Mutter kam beim Erdbeben ums Leben, von ihren sechs Geschwistern sind drei in ein Waisenhaus gebracht worden, von den drei anderen fehlt jede
Spur. Sie selbst wurde von einer Tante aufgenommen, einer alleinerziehenden sechsfachen Mutter, die jetzt mit sieben Kindern in einem Zelt in der Nähe des Krankenhauses lebt. Anfang April brachte die Frau das Mädchen das erste Mal zur Behandlung. "Da haben wir ihr intravenös eine hochkonzentrierte Nährlösung verabreicht", erinnerte sich Dr. Guerlaine Laplanche, die ärztliche Leiterin der Klinik. Damals habe das Leben des Kindes auf Messers Schneide gestanden, es sei nicht sicher gewesen, ob es überhaupt noch gerettet werden könne. Dieser Besuch sei der dritte, wenngleich ihr Zustand nicht mehr ganz so kritisch sei wie damals im April. Aber der Kreislauf eines solchen Kindes mache den Jojo-Effekt bei der Ernährung nicht allzu oft mit. Wenn das Mädchen nicht endlich regelmäßiger etwas zu essen bekomme, werde sie über kurz oder lang sterben. Die Tante bestätigte diese Aussagen mit ständigem Nicken. Meine Frage, wann sie und ihre Familie denn zuletzt gegessen hätten, beantwortete sie lächelnd mit "Erst vor zwei Tagen." Ich konnte nichts darauf erwidern, und auch jetzt habe ich einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Ich habe der Frau etwas Geld in die Hand gedrückt, auch wenn mir klar ist, wie willkürlich, sinnlos und hilflos das war.

Wideline war ein ähnlich erschütternder Fall. Die Zwölfjährige war alleine mit verschiedenen Taptaps von der Lalu (eine große Verbindungsstraße in Port-au-Prince, die sich aber überhaupt nicht in der Nähe unserer Klinik befindet) hergekommen, weil sie von dem kostenlosen Programm gehört hatte. Die Ärztin untersuchte das stille Mädchen auf Anämie und versuchte eine körperliche Ursache für deren Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit zu finden. Es war rührend, mitanzusehen, wie liebevoll sie das Kind behandelte und ganz unbemerkt in ein Gespräch verwickelte. Dabei stellte sich heraus, dass
Wideline beim Erdbeben zwei Tage in den Trümmern der Kathedrale verschüttet war und miterleben musste, wie die Leute um sie herum starben. Viel mehr war aus ihr nicht herauszu-bekommen. Von ihrer familiären Situation wollte sie nichts sagen, was uns nur das Schlimmste befürchten lässt. Wer sollte da keine Kopfschmerzen bekom-men? Dr. Laplanche meinte hinterher, oft müsse nicht mehr der verletzte Körper, sondern die verwundete Seele versorgt wer-den. Wideline wisse jetzt, dass sie wieder herkommen könne und ihr jemand zuhöre. Sie zum Reden zu bringen, sei in ihrem Fall die größte Hilfe. Nur so könne sie das Trauma überwinden.

Traumatisiert war auch die neunjährige Mickenia, deren Mutter ebenfalls beim Erdbeben ums Leben gekommen ist. Sie lebt jetzt bei einer Bekannten, die wie Mickenias Mutter ursprünglich aus Bel Anse stammt. Die Frau brachte sie wegen einer Entzündung am Auge in die Klinik und hörte nicht auf, sich für die kostenlose Behandlung zu bedanken. Ihr wäre es niemals möglich, das Kind zu einem Arzt zu schicken, der Geld für die Konsultation, die Laborarbeiten und die nötigen Medikamente verlange, beteuerte sie immer wieder. Nicht nur
wegen dieses Wortschwalls war Mickenias Lethargie besonders auffällig. Das Mädchen zeigte kaum Regungen, weshalb sie auf Anämie behandelt wurde. Die Vermutung, dass sie aber einfach von den Ereignissen am 12. Januar und jedem Tag danach einfach wie gelähmt ist, scheint auch für Nichtmediziner naheliegend.

 Auch wenn es der achtjährigen Carmelle so schlecht ging, dass sie nicht mehr selbst laufen konnte, so waren ihre Symptome immerhin klar auf eine Ursache zurückzuführen. Die Kleine hatte sechs Tage zuvor verdorbenen Fisch gegessen und sich seither ständig übergeben. Dadurch war sie so dehydriert, dass ihre gesamten Körperfunktionen versagten. Sie wurde stationär aufgenommen und intravenös mit Medizin sowie Elektrolyten versorgt. Unser Vereinsmitglied Dr. Heiko Faber hatte ja erst vor gut zwei Wochen das Programm besucht (siehe Blogbeitrag vom 5. September) und als Fachmann auch die Krankenakten eingesehen. Er hatte die Versorgung gut geheißen und aus den Papieren einschätzen können, dass die verordneten Therapien anschlagen müssen. Als Laie kann ich dazu natürlich nichts sagen. Mir gehen nur die Bilder der Kinder nicht mehr aus dem Kopf, die auch für Nichtmediziner sichtlich dem Tod einen Schritt näher stehen als dem Leben. Wenn ich mich jetzt an unsere Diskussion innerhalb des Vorstands erinnere, als wir das Programm eingerichtet haben, mischt sich ein bestimmt doofes Grinsen unter meine Tränen. Damals machten wir uns Sorgen, wie wir es schaffen sollten, den Andrang von Nichtbedürftigen abzuwehren...

Kenbé fem heißt es heutzutage als Gruß in den Straßen von Port-au-Prince: Halte Dich aufrecht oder Kämpfe weiter. Hoffentlich tun das alle - hier in Haiti und Ihr in Deutschland beim Spendensammeln.
Danke dafür.
Stephan Krause

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