Liebe FreundInnen Haitis,
heute nur ganz kurz, wir arbeiten gerade am nächsten Rundbrief der Haiti-Kinderhilfe, bereiten Stephans Reise vor und bewältigen noch andere Vereinsarbeiten, deshalb lassen wir andere für uns sprechen: Im Anhang findet Ihr/finden Sie einen Kommentar aus der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit", der uns gut gefallen hat. Vielleicht gefällt er Euch/Ihnen ja auch?
"Nicht nur Reis verteilen - Nach dem Erdbeben in Haiti erwartet die Welt schnelle Erfolge. Doch wirksame Hilfe braucht Zeit / Kommentar von Simon Bröckelmann, 18. Februar
Minuten nachdem die Erde in Haiti bebte, erreichen die ersten Bilder den Rest der Welt. Die Hilfsmaßnahmen können sofort eingeleitet, die Flugzeuge ohne Probleme gechartert werden. Alle landen geordnet auf dem Flughafen von Port-au-Prince, die Straßen werden flugs frei geräumt und Nahrungsmittel ohne großen Koordinierungsbedarf an die bedürftigen Menschen verteilt, die gelassen und geduldig auf Nahrung und Wasser warten. Innerhalb von wenigen Tagen ist die Katastrophe unter Kontrolle. Diese Erwartungshaltung scheint die Welt zu haben. Dank der bewegenden Bilder aus Haiti ist tatsächlich eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst worden, wie es sie seit dem Tsunami 2004 nicht mehr gegeben hat. Nach einer Katastrophe dieser Größenordnung ist für Misereor und andere Hilfsorganisationen eine unmittelbare Berichterstattung wichtig, weil sie die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland weckt. Ohne Spenden wäre keine Hilfe möglich. Doch je größer die internationale Aufmerksamkeit, desto größer die Gefahr, dass Krisen und Katastrophen eine Eigendynamik entwickeln. Zum ohnehin großen Zeitdruck gesellt sich innerhalb kürzester Zeit der Erfolgsdruck – und bei hohem Spendenaufkommen auch der Zwang, sehr viel Geld in kurzer Zeit wirkungsvoll in Nothilfe umzusetzen. »Bei vielen Menschen ist die Hilfe noch nicht angekommen. Wie erklären Sie sich das?«, fragt uns schon drei Tage nach dem Beben der Reporter eines Fernsehsenders. Die Öffentlichkeit will Ergebnisse sehen. Und zwar schnell, möglichst 24 Stunden nach der Katastrophe. Jede Negativmeldung von unkoordinierter Hilfe, Gewaltausbrüchen auf Haitis Straßen und Menschen, die bei einer Verteilungsaktion leer ausgegangen sind, wird ausgiebig dokumentiert und kommentiert, nach dem Motto: Es wurde schnell gespendet, warum klappt die Hilfe jetzt nicht schnell? Die Erwartungshaltung, die hier aufgebaut wird, ist unrealistisch und kontraproduktiv. Eine Millionenstadt, die aussieht, als sei sie bombardiert worden, ein zerstörtes UNHauptquartier mit Hunderten toter UN-Mitarbeiter, eine handlungsunfähige Regierung, Tausende Verletzte – das sind die Probleme, mit denen die Hilfswerke und ihre Partner am Schauplatz einer Katastrophe zu kämpfen haben, abgesehen von zunächst nicht funktionierenden Banküberweisungen, zusammengebrochenen Telefon- und Handynetzen und ganz zu schweigen von getöteten und verletzten Mitarbeitern und Freunden vor Ort, Menschen, um die die Helfer selbst trauern. Angesichts der großen Not in den ersten Tagen nach einer Katastrophe ist es für die Hilfswerke schwer, den Drang zum blinden Aktionismus bei der Umsetzung von Projekten zurückzudrängen und dies auch noch Journalisten und Spendern verständlich zu machen. Die Realität sieht nun einmal anders aus, als blauäugige Beobachter es erwarten, und muss entsprechend erklärt werden, damit die vielen hilfsbereiten Spender in Deutschland nachvollziehen können, ob sinnvolle Nothilfe und nachhaltige Wiederaufbauhilfe geleistet werden. Sorgfältige Planung und gute Absprachen der Handelnden brauchen auch in der Nothilfe Zeit. Ein an den Bedürfnissen und Potenzialen der betroffenen Menschen ansetzender Wiederaufbau, der wirkliche Verbesserungen bringt, braucht noch viel mehr Zeit. Man denke nur an die gravierenden Fehler, die nach dem Tsunami 2004 im Indischen Ozean zu beobachten waren: Da wurden Menschen einfach Hilfsprogramme übergestülpt, ohne sie zu fragen, was nötig ist. Wenn die Bevölkerung auch Monate nach der Katastrophe Essenslieferungen bekommt, obwohl sie sich längst wieder selbst versorgen könnte, ist das nicht nur ein vergebliches Bemühen, sondern ein Skandal. Denn die kostenlosen Nahrungsmittel zerstören regionale Handelsstrukturen, entziehen den lokalen Bauern ihre Lebensgrundlage und vergrößern den Schaden damit beträchtlich. Sie verhindern Entwicklung! Wenn Geld und Helfer massiv von außen in eine Krisenregion einströmen, ist die Gefahr groß, dass nicht nur das örtliche Preissystem völlig aus den Fugen gerät, sondern – noch viel gravierender – dass auch die Selbstständigkeit und Eigeninitiative der Menschen zugeschüttet werden. Die erste und wichtigste Nothilfe, die für Kameras oft nicht zu sehen ist, wird von den einheimischen Partnern der Hilfswerke und den Betroffenen selber geleistet. Doch häufig wird das Selbsthilfepotenzial der Bevölkerung nicht hinreichend wahrgenommen, kulturelle Vertrautheit, Sprach- und Ortskenntnisse sowie die Einbeziehung der vorhandenen Strukturen und Organisationsprozesse scheinen zu fehlen oder kaum eine Rolle zu spielen. Den Satz »Die Hilfsorganisationen XY liefern 50 Tonnen Lebensmittel in die betroffenen Gebiete« versteht jeder – und er lässt sich daher spendenwirksam kommunizieren. Viel schwieriger ist es dagegen, zu erklären, dass schon von Beginn der Katastrophe an die Selbsthilfekräfte mobilisiert werden müssen und dass die Menschen am Unglücksort nicht nur die erste Nothilfe, sondern auch den Neubeginn selbst in die Hand nehmen müssen. Erst recht kompliziert wird es, wenn man vermitteln will, dass man keine Lebensmittel oder Fertighäuser einfliegt, sondern in Zusammenarbeit mit ortskundigen Partnern den Transport von Nahrungsmitteln aus Nachbarregionen oder die Beschaffung von lokalem Baumaterial organisiert – und dass dabei deutsche Helfer nicht zwingend gebraucht werden. Diese Bilder werden aber kaum gezeigt, vielleicht auch, weil sie wenig Identifikationsmöglichkeiten bieten. Wichtiger scheint es stattdessen zu sein, den deutschen Helfer mit dem deutschen Schäferhund zu zeigen, der nach Verschütteten sucht. Damit soll nicht der bewunderungswürdige und professionelle Einsatz vieler ausländischer Kräfte infrage gestellt werden. Aber diese Art der Berichterstattung blendet systematisch aus, dass die entscheidenden Nothelfer und Lebensretter der ersten Stunden die Überlebenden selbst sind. Bei den enormen Summen, die gespendet werden, ist die Frage nach dem Einsatz der Mittel wichtig und gerechtfertigt. Unrealistischer Zeitdruck jedoch wird weder die Katastrophenhilfe verbessern noch einen sinnvollen Wiederaufbau befördern. Zeit ist eine entscheidende Ressource der Entwicklungszusammenarbeit. Entwicklungspolitische Prinzipien umsichtiger und sorgfältiger Planung von Maßnahmen, die von den Betroffenen selbst verantwortet werden, sind auch bei der Nothilfe wichtig. Sie erfüllen, wenn sie richtig verstanden werden, auch eine für die Zukunft wichtige präventive Funktion. So lässt sich eben das Ausmaß neuer Zerstörungen durch Erdbeben wesentlich reduzieren, wenn man erdbebensichere Bautechniken fördert. Und die jetzt für Haiti noch viel drängendere Beantwortung der Frage, wie Ernährungssicherung und Erosionsschutz als Grundlage nachhaltiger ländlicher Entwicklung gelingen kann, muss an die durchaus vorhandenen positiven Ergebnisse der kirchlichen Entwicklungsarbeit in diesem Land anknüpfen. Es war schon immer schwieriger, komplexe Sachverhalte in den Medien darzustellen als tatsächlich oder nur scheinbar einfache Lösungen. Die (Spenden-)Kommunikation ist eine ebenso große Herausforderung wie der Kampf gegen Not und Armut selbst. Alle Seiten – Hilfsorganisationen, Medien wie auch die Spender – sollten sich daher gemeinsam verantwortlich dafür fühlen, dass eine seriöse Berichterstattung über entwicklungspolitische Zusammenhänge wie über Katastrophen wirklich nur einem Zweck dient: der nachhaltigen Hilfe für und durch die Betroffenen selbst."
Liebe Grüße,
heike fritz & Stephan Krause
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