Dienstag, 26. März 2013

Plateau Central 2.

 
Sonnenuntergang in Maissade
Eine Schule bei Maissade
TipyTap Handwashing


Heute Abend sind wir zurückgekommen aus Maissade, Billiguy, Hinche und so weiter. Aber längst keine Ruhe. Rob Padberg wird nämlich gleich als Honorarbotschafter in Haiti nach 35 Jahren verabschiedet. Natürlich ist Roswitha eingeladen und wir gleich mit. Also ab unter die Dusche und fein machen – so weit es halt geht, denn mit offiziellen Anlässen dieser Art hatten wir eigentlich nicht gerechnet.  Ein anderes Haiti, nicht mit dem zu vergleichen, welches wir vorher kennenlernen durften und ab morgen wieder intensiv genießen können.
Aber es gab ja noch drei Tage vorher, vollgestopft mit Erlebnissen und Erfahrungen: Ziemlich früh am Mittwoch– noch vor dem Frühstück und in der Dunkelheit, brachen wir Richtung Hinche auf. Da wir Guivens nicht gleich finden konnten, verspäteten wir uns doch wieder etwas und mussten unser „Frühstück“ (Bananen und haitianisches Brot) im Fahren einnehmen. Dabei wundervolle Aussichten in das Hinterland von PaP, eine Passstraße, von der EU finanziert und mit allem versehen, was eine Straße auch bei uns ausmacht: Nicht ein bloßes Asphaltband, sondern weit ausholend befestigt, mit Straßengräben und Kaskaden am Rand, damit bei heftigen Regenfällen das Erdreich drumherum geschützt ist. Mittlerweile säumen Holzhäuser und die unausweichlichen Verkaufsstände die Straße über weite Teile – na ja, wo hätten wir sonst auch das Frühstück hergenommen? Hinche ist in kleines Städtchen, aber mit einem „Flugplatz“: Einer geschotterten Landebahn ohne Beleuchtung, Tower oder Zaun. Immerhin! Weiter Richtung Maissade: Nur noch Schotterweg mit größeren Löchern, wir brauchen eine gute Stunde für wenige Kilometer. Maissade selber erstaunt uns mit seinen armen, aber gepflegten und heimelig wirkenden Hütten, alle Grundstücke säuberlich durch Kakteenhecken abgegrenzt. Irgendwie so ein bisschen wie eine Vorortsiedlung bei uns. Am Platz vor der Kirche dann das gefühlte Zentrum, wie immer: Einer scheint den anderen nur anzuschreien (was natürlich nur so wirkt) und, mehr als sonst, Handys und Simkartenverkäufe in jedem zweiten Häuschen. Wir finden Dank der Ortskenntnis Guivens‘ rasch zu Mme. Marilla, der Leiterin des „Frauenkombinats“ FAM (die unter anderem die Mühle betreiben, die von uns zur  Zeit erweitert wird). Da jetzt Ferien sind, sind die Frauen damit beschäftigt, aufgelaufene Arbeiten zu erledigen, wesentliche Fabrikationsräume haben zur Zeit auch kein Dach, weil die Ferien zur Sanierung verwendet werden. Auch hier sind unsere Ingenieure tätig, da sie augenscheinlich einen guten Ruf in der Gegend genießen. Kein Wunder, sagt uns doch Marilla, dass es nur zwei gute Schulen in der ganzen Gegend gäbe, eine davon unsere! Wir sind schon sehr gespannt darauf, schließlich kennen wir sie bislang nur von Bildern. Marilla ist die Power in Person. Selten habe ich eine lautere, freundlichere, agilere Person erlebt, und was sie in der Gegend erreicht hat (oder besser angestoßen, denn die Vereinigung wird natürlich von ebenfalls aktiven und offensichtlich sehr positiv denkenden Frauen getragen), kann sich nun wirklich sehen lassen.

Also führt uns nun der Weg in unsere Schule von Billiguy. Die Straße wird nicht besser, eher wird es zunehmend weniger Straße. Furten, Schlaglöcher, die bei uns tektonisch erfasst würden, immer wieder Karawanen von Eseln, die zu diversen Märkten geführt werden, aber auch einzelne, voll beladene Personen, die die unglaublich weite Strecke zwischen den Ortschaften mehrmals täglich gehen müssen. Wir werden später bei der Aufnahme der Patenkinder erfahren, dass hier offensichtlich alle Frauen „marchands“ sind, also mit ihren kümmerlichen Waren, die von ihren Ehemännern („cultivateur“) Tag für Tag auf einem der vielen Marktplätze stehen. Die Gegend wird einsamer, ärmer, aber auch schöner. Manche Stellen lassen vermuten, wie dicht noch vor Jahren der Urwald hier war, das Anlegen von Bananenplantagen und das Abholzen der majestätischen Mangobäume und Palmen haben nicht viel davon übrig gelassen. Traurig, aber verständlich: Die daraus gewonnene Holzkohle bleibt nun einmal die einzige verfügbare Energie, denn der Einsatz alternativer Energien wird bestenfalls von digicell, dem größten Telefonanbieter Haitis vorangetrieben. Tatsächlich haben die auch in dieser einsamen Gegend Solarstationen aufgebaut, damit die Handys aufgeladen und die Simkarten möglichst schnell abtelefoniert werden können! Auch hier erschreckend kurios: Ein Handy hat fast jeder, offensichtlich eher als eine Zahnbürste.
Schon von weitem ist der gelb-grüne Bau unserer Schule zu sehen, und obwohl die Umfriedung noch lange nicht das Grundstück verlässlich umschließt, empfängt uns ein großes Tor. Herzlich werden wir begrüßt, Fast alle Schüler haben sich eingefunden, die Lehrer sowieso und natürlich der Schulleiter. Und einige Anwohner dazu. Auffällig ist mir, dass der schönste Platz auf dem Gelände, unter einem Baum im Schatten, mit Bauschutt zugestellt ist. Erst später wird mir klar, dass diese Steine, Bretter, Metallskelette als notdürftige Sitzgelegenheiten dienen. Aber hübsch (und bequem) ist das nicht.
Leider müssen wir Risse, einige sogar erheblich, am Gebäude feststellen. Besonders am südlichen Ende entstanden sie, weil das Gelände aufgeschüttet wurde und das schwere Gerät fehlte, um den Untergrund dauerhaft zu versiegeln. Die Länge des Gebäudes und die Schwere des Wasserreservoirs unter dem südlichen Teil tat das Übrige, um das Absacken des Gebäudeteils zu erreichen. Auch weitere Risse an anderen Gebäudeteilen sind zu erkennen, allerdings eher auf die schnelle Austrocknung des Betons zurückzuführen. Da die Betonteile aber üppig mit Armierung versehen sind, können wir zunächst noch beobachten, wie sich die Mängel entwickeln, um dann früh genug mit Baumaßnahmen entgegenzuwirken. Wir schauen in die Klassenräume. Luftig, regelrecht kühl und groß. Diese Räume laden wirklich zum Verweilen und Lernen ein. Besonders groß wirken sie, weil sich die Schüler auf wenigen, vorsintflutlichen Möbeln stapeln. Denn leider sind die von uns schon seit längerer Zeit bestellten Schulmöbel noch immer nicht fertig. Liefertermin soll Ende April sein, dann ist auch dieser Missstand behoben. Auch hier beschäftigen wir einen Tischler aus der Region, der offensichtlich von der Größe dieses Projektes (und anderer Aufträge, denn in der ganzen Gegend tut sich viel!) überfordert ist.
Unser Pick-Up war ja bis weit über die Ladekante beladen, alles Geschenke für die Schule, zu einem großen Teil noch aus dem Container von vor einem Jahr. Jetzt, wo die Bälle, Taschen, Hefte, Stifte endlich sicher verwahrt werden können, händigen wir sie der Schule aus. Auch zwei Fußballtore (etwa 1,50 hoch und 2 Meter breit) können endlich ihrer Bestimmung dienen. Der Unterricht, den wir beobachten können (trotz der Ferien lassen sich die Schüler das gefallen!), gefällt uns erheblich besser als in Bellanger: Die Schüler müssen mehr selber leisten, es wird gesungen und viel gelacht. Die für unseren Besuch eingeübten Lieder sind selbst gedichtet und werden in jedem der Klassenzimmer (offensichtlich mit anderen Strophen) wiederholt. Dann werden dort wieder einmal Süßigkeiten verteilt. Aber auch hier ein deutlicher Unterschied zu Bellanger: Es sind Mülleimer aufgestellt und die Schülerinnen und Schüler werden dazu aufgefordert, ihre Bonbonpapiere dort hineinzuwerfen. Sie sehen das vermutlich als lustigen Sport an, denn die Notwendigkeit ist ja für sie nicht nachzuvollziehen, aber es fruchtet!
Langsam leert sich die Schule, für den kommenden Vormittag sind die Gespräche mit der Schulleitung und den Lehrern geplant. Zu den letzten Gesprächen gehört das mit der Frau des Pfarrers und Schulleiters in Maissade die, nachdem ihre eigenen drei Kinder groß sind, insgesamt 14 Waisenkinder aufgenommen hat und uns um Unterstützung bittet. Wir werden Sie übermorgen, vor unserer Abreise aus der Region, besuchen.
Zurück in Maissade, den Pick-Up voll mit pädagogischem Personal, nachdem sich auf dem Weg einer nach dem anderen verabschiedet hat, treffen wir wieder in der FAM ein. Man bittet uns – nach dem obligatorischen Händewaschen – in den Raum, in dem die Cassavebrote normalerweise verpackt werden, ins Hauptgebäude. Dort wartet ein großer Tisch auf uns, abgedeckt mit weißen Tüchern. Mit großer Geste werden die Tücher entfernt und – ein wundervoll gedeckter Tisch präsentiert sich uns. Genau richtig, denn der Hunger wurde langsam drängend. Leckere regionstypische Speise, wohlschmeckend und vor allem ausgewogen und den Hunger stillend: verschiedenste Salate, Grillot, Kochbananen, Yamwurzeln, Hühnchen, selbstverständlich auch der Reis mit Bohnen mit einer vorzüglichen, würzigen Sauce. Zum Nachtisch natürlich die Süßkartoffelspeise „Painpatate“, als „Absacker“ schließlich ein Cremasse (ein süßer, ziemlich alkoholhaltiger Cocktail).
Gut gesättigt treten wir die Rückfahrt nach Hinche an, denn dort werden wir in dieser Nacht unterkommen. Ein von Schwestern geführtes Projekt mit Schule, Krankenstation und einem Gästehaus, das vor allem Hilfsorganisationen günstig zur Verfügung steht. Die junge Frau, die für die Bewirtung zuständig ist, nimmt es mit der Zeit nicht so ernst – „komm ich heut nicht komm ich morgen“! Und so sind wir glücklich, schon vorher genügend gegessen zu haben. Aber sauber ist es und wir schlafen kurz, aber tief.
Wieder geht es nach Billiguy in unsere Schule, vorher holen wir einige Werkzeuge und Materialien, die wir zum Bau einer Händewaschstation benötigen. Bereits Tage zuvor haben wir Wasserkanister gesammelt und uns wieder und wieder eine einfache Konstruktion durch den Kopf gehen lassen, die den Kindern das Händewaschen ermöglichen soll, das in Zeiten der Cholera so immens wichtig geworden ist. Die von Roswitha im Internet entdeckte Version konnte so deutlich optimiert werden. In der Schule angekommen (zwischendurch ein paar Lehrer aufgesammelt) teilen wir uns in zwei Gruppen: Barbara und Roswitha führen das Gespräch mit den Lehrern, um über Wünsche, Anschaffungen, Fortführung der Bauarbeiten, die Gehälter und den pädagogischen Ansatz zu sprechen, Guivens und ich bauen die Station auf. In der prallen Sonne! Schon bald muss ich mir (wir haben ja noch eine ganze Menge vor) zur Begeisterung der Zuschauer, die sich mittlerweile eingefunden haben, das Hemd ausziehen. So viel weiße Haut ist einfach zu viel. (Nebenbei: nach den drei Stunden in der Sonne war sie auch nicht mehr weiß…). Besonders viel Anerkennung wird mir gezollt, als ich die Spitzhacke schwingend unter Beweis stellen kann, dass weiße Menschen nicht nur Fotoapparate und Notizblöcke tragen können und ansonsten in Kisten mit 4 Rädern leben. Ich weiß, das sind alles Vorurteile – aber die Reaktion meines Publikums lässt diesen Schluss zu.
Guivens gibt mir einige Lehren in der möglichen Verwendung von zu anderen Zwecken erfundener Werkzeuge, ich kann ihm ein paar Heimwerkertricks beibringen, die von ihm ebenfalls gerne kopiert werden. (Das Anmischen von Beton erinnert mich frappant an meine Zeit auf dem Bau vor über 45 Jahren! Heute wird der Mörtel ja nur noch fertig gemischt auf die Baustelle gebracht.) Gemeinsam, schweigend und nur wenige Worte austauschend können wir Hand in Hand arbeiten. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Lehrer müssen sich alle zunächst die Hände waschen, um das Modell zu kontrollieren und sich in der Handhabung (nicht so ganz der rechte Begriff, schließlich hat es ja Fußpedale!) zu üben. Es funktioniert folgendermaßen: Über zwei Dreibeinen (aus Wasserrohren, Guivens hat als Mann vom Bau darauf bestanden, sie einzubetonieren) liegt ein weiteres Rohr, durch die Henkel von Wasser- oder Speiseölkanister gesteckt. Diese Kanister haben unterhalb des Deckels ein kleines Loch, über einen Strick am Deckel, der wiederum mit dem anderen Ende an einem Pedal endet, wird der Kanister vornüber gekippt, so dass aus dem kleinen Loch Wasser läuft. N’oublier pas: le savon! Die Seife hängt ebenfalls an Schnüren zwischen den Kanistern. Einfach, aber ausgesprochen wirkungsvoll und schnell aufgebaut. Und das beste: Nach getaner Arbeit können auch wir uns waschen!
Dann weiter zu einem noch spannenderen Termin: Ein Grundstück für ein mögliches Projekt. Es liegt unweit (5 km) von Maissade, allerdings auch nur über eine Schotterpiste zu erreichen. An einer öffentlichen Straße gelegen, zwei Mangobäume, etwa 10.000 m². Die Überraschung: Das war noch längst nicht alles: Ein längerer Marsch führt uns an der Grundstücksgrenze entlang, die sich weiter und weiter entlang eines verwinkelten, in unseren Augen riesiges Areal schlängelt.
Sehr beeindruckt verlassen wir das Gelände, mit Plänen, Zweifel und anderen Ideen im Kopf, die uns auch die Nacht über nicht verlassen werden.
Der letzte Tag: heute geht es zurück nach PaP. Vorher führt uns der Weg zum Pastor aus Maissade und seiner Familie. Wir sind sehr beeindruckt von der Sauberkeit und der Einfachheit in dem Haus, dem angenehmen Ton, den glücklichen Kindern, die liebevoll miteinander spielen, auch wenn sie nicht beobachtet werden. Die zum Pfarrhaus gehörende Schule ist geräumig, luftig, die zurückgelassenen Tafelbilder lassen auf ein hohes Niveau schließen. Insgesamt haben wir den Eindruck, dass ein Engagement für dieses kleine Waisenhaus mehr als sinnvoll ist. Vielleicht finden wir ja jemanden, der diese Unterstützung im Ganzen übernehmen will. Es wäre ein wundervolles Projekt für einen Sponsor.
Ein weiterer Besuch auf dem zum Verkauf anstehenden Grundstück. Die Fahrt dorthin versuchen wir so weit zu protokollieren, dass wir das Grundstück über ein Satellitenbild wiederfinden können. Nochmals gehen wir um das Grundstück herum, versuchen auch die Größe zu erfassen. Eine wirklich wundervolle Grundbepflanzung könnte hier der Ansatz zu einer Wiederaufforstung dieses Areals sein. Viele unterschiedliche Pflanzen finden wir, in jeder Kategorie (Bäume, Büsche, Gräser) eine echte Vielfalt. Dann kommen die Eigentümer, die auf die Schnelle zusammengetrommelt wurden. Roswitha erläutert unsere Absichten, kennzeichnet die Chancen für die Kinder und damit alle anderen Bewohner. Dass wir von Mariella kommen, ist für die Besitzer – eine Art Erbengemeinschaft  von großer Bedeutung, es ist wenig Ablehnung zu spüren, man hört geduldig zu und stellt sinnvolle, nachvollziehbare Fragen. Der Pferdefuß: Das Grundstück direkt an der Straße steht nicht zum Verkauf. Man will uns zunächst ein Wegerecht einräumen (was auch kündbar ist, dann kämen wir legal gar nicht mehr auf das Grundstück), später bietet man uns vom bestehenden Straßengrundstück einen Teil an, der der Breite eine Zufahrtsstraße entspräche. Das ist eine diskutable alternative, auch wenn wir innerlich das unverkäufliche Grundstück längst bebaut hatten…
Die Lage, Größe, der Zustand und der Preis sprechen eindeutig für den Kauf, auch wenn es immer noch eine gute Stunde Fahrt von Hinche entfernt ist, und Hinche auf der Mitte zwischen PaP und Cap Haitien liegt – also auch nicht so schnell (wenn auch komfortabel) zu erreichen ist. In den nächsten Tagen stehen aber noch drei Grundstücke auf unserem Besichtigungsplan, mal sehen, was kommt!
Die Fahrt zurück, bananenessend und über die wirklich großartige Gegend staunend, ist besonders ab Ortseingang Port-au-Prince nervig, zeitlich gesehen sind diese letzten Kilometer der absolut überwiegende Teil der Rückreise. Den Staub, die Hektik, die Lautstärke sind wir schon gewohnt – die waren auch in Hinche und Maissade nur unwesentlich geringer.
Liebe Grüße in das kalte Deutschland! Andreas

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