Dienstag, 21. September 2010

medizinische hilfe für restavek

Liebe FreundInnen Haitis,

meine jüngste Reise ist ja schon wieder um, allerdings habe ich die Zeitumstellung noch ebenso wenig verdaut wie meine teils schon sehr grausamen Eindrücke. Ich werde versuchen, in nächster Zeit noch einige Berichte über die ausstehenden Projekte zu verfassen, die die Haiti-Kinderhilfe zum Teil bereits finanziert, oder die ich besucht habe, um eine möglich Zusammenarbeit vorzubereiten. Als erstes heute aber zur medizinischen Behandlung der Restavek-Kindersklaven:


Nachdem die hygienischen, versorgungstechnischen und klimatischen Bedingungen das Leben in den Zeltlagern sehr erschwert, hatte der Vorstand der Haiti-Kinderhilfe ja im Frühjahr beschlossen, sowohl im Krankenhaus "Notre Dame de Lourdes" ein kostenloses medizinisches Behandlungsprogramm für Kinder anzubieten (siehe Blogbeitrag vom 13. September) als auch für die überlebenden Restavek. Genau wie im Krankenhaus wird auch jede Konsultation der Kindersklaven durch Dr. Edouard Bontemps mit einer Pauschale von umgerechnet drei Euro beglichen. Hinzu kommen Ausgaben für Medikamente und in Einzelfällen auch Transportkosten, wenn die Kinder zu schwach sind, die teils kilometerlangen Wege durch Port-au-Prince zu Fuß zurückzulegen - immerhin eine Stadt in den Ausmaßen von Berlin.

Yolène, zehn Jahre alt, Anämie
Insgesamt hatte Dr. Bontemps bis zu meinem Besuch 209 Kinder behandelt. Damit die Fälle auch für uns dokumentiert werden, wurde er bei der Sprechstunde in seiner Praxis und bei den verschiedenen Haus- oder besser Ortsbesuchen immer von Guerline, einer Monitorin, begleitet, die für uns die Daten der Kinder, die zu ihren Lebensumständen, die Diagnose, die empfohlene Therapie und die ausgegebenen Medikamente erfasste. Guerline erklärte mir auch, wie Mouvman vin plis moun/MVM das Programm umsetzte. Demnach vereinbarten die Monitore, die in etwa so arbeiten wie hierzulande Streetworker, immer einen Sprechstundentermin, um mit einer ganzen Gruppe kranker Kinder zum Arzt zu gehen. Wegen zahlreicher Erdrutsche nach dem Einsetzen der heftigeren Regenfälle sei das Programm im Juli zeitweise unterbrochen gewesen. Die Wegverhältnisse seien in der Zeit unüberwindbare Hindernisse für die Kinder gewesen. Für die schwereren Erkrankungen seien deshalb damals mehr Hausbesuche erfolgt.

Janvier, elf Jahre alt, Ohreninfektion
 Jetzt seien die Straßenverhältnisse in Port-au-Prince wieder stabiler, und zugleich steige die Zahl der Erkrankten stetig an, weil sich in den Lagern immer mehr Infektionskrankheiten verbreiteten, die Kinder wegen der schlechten Ernährungslage schwächer würden, und viele Hilfsorganisationen ihre Projekte aufgegeben hätten. In einigen Vierteln gebe es überhaupt keine medizinische Versorgung mehr, sogar die Zeltkliniken seien mittlerweile fast alle wieder abgebaut. - Diese Aussage deckt sich leider mit denen von einigen Helfern und Journalisten, die ich in Haiti gesprochen habe, und auch mit meinen eigenen Erfahrungen; ich habe auf meinen vielen Wegen durch Port-au-Prince kaum noch ein Klinikzelt gesehen.

Pierre, elf Jahre alt, Zahnschmerzen, in Begleitung seiner Streetworkerinnen
 An dem Nachmittag, als ich die Sprechstunde besuchte, waren 27 Kinder im Wartezimmer. Sie alle klagten über Schwäche, Fieber, Durchfall,
Ohren-, Bauch- oder Kopfweh. Mich erstaunte, dass sie relativ unbeteiligt von ihren Symptomen sprachen - und nur auf sehr genaue Nachfrage. Guerline erklärte mir dann in einer ruhigeren Minute und etwas abseits vom Gedränge, dass Restavek nicht gerne über ihre Schmerzen redeten. Je anfälliger sie auf ihre Familien wirkten, umso größer werde die Gefahr, dass sie auf die Straße gesetzt würden. Und selbst wenn sie schlecht von ihren "Besitzern" behandelt würden, so wüssten sie dort, was sie erwarte, während das Leben auf der Straße noch gefährlicher sei. Sie habe Fälle von Mädchen gesehen, die aus Mangel an Hygiene Vaginalentzündungen hatten, dass sie kaum noch gehen konnten. Und obwohl die Säuberung der infizierten Stellen höllisch weh tue, keine Miene verzogen hätten. Die Kinder glaubten, sich keine Blöße geben zu dürfen. Damit sie nicht vollkommen verunsichert werden, würden sie auch von den Monitoren zum Arzt begleitet. Die kleine Gruppenreise verleihe dem unangenehmen Termin dann auch etwas Ausflugscharakter...

Shnaidine, 13 Jahre alt, Asthma
Dr. Bontemps nahm sich bei der Behandlung jedes einzelnen Kindes viel Zeit. Mit viel Respekt - und viel distanzierter als Dr. Laplanche im Krankenhaus "Notre Dame de Lourdes" - untersuchte er sie ganz genau. Die meisten schreckten vor zuviel Nähe zurück, erklärte er mir hinterher. Durch sein Verhalten wolle er ihnen signalisieren, dass jeder auch auf sie Rücksicht nehmen und ihre Individualdistanz achten sollte. Da sie das harte Leben eines erwachsenen Arbeiters führten, behandle er sie auch nicht wie "normale" Kinder. Er versuche, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen nicht nur Linderung zu verschaffen, sondern ihnen auch allgemeine Vorsorgemaßnahmen beizubringen. Ich hatte mich schon gewundert, warum er mit jedem Kind, egal ob es über Fieber oder Magenschmerzen klagte, ganz genau über die Hände gesprochen hatte. Mein Kreyol reichte jedoch nicht aus, um Einzelheiten zu verstehen. Es ist jedenfalls so, dass er zu jeder Behandlung ein kleines Hygiene-ABC unterrichtet, damit die Kinder öfters ihre Hände waschen und nicht mit dreckigen Händen immer wieder Infektionen an den Augen, im Mund und in der Folge im Magen- oder Darmtrakt verursachten.

Saint-Charles, zwölf Jahre alt, Fieber

Woodney, neun Jahre alt, Kopfweh
Ein häufiges Symptom der Kinder seien Kopfschmerzen, erklärte der Mediziner weiter. Aber Kinder hätten in der Regel keine Kopfschmerzen an sich. Heutzutage kämen zwar Traumata als Ursache der Schmerzen hinzu, meist seien es aber Infektionen an Augen, Ohren oder im Mund. Gerade die Zähne der Restavek seien oft nur faule Stümpfe. Durch den Vitaminmangel seien die Zähne ganz grundsätzlich schon angegriffen, die Zahnpflege falle höchst sporadisch aus, weil die Kinder meistens keine Zahnbürsten und schon gar keine Zahnpasta hätten, und dann erhielten sie oft nur Zuckerrohr als Nahrung. - Sie seien sogar sehr scharf darauf, weil hier auch kleinste Mengen satt machten, und auf den Fasern könne man sehr lange herumkauen. Für die Ernährung zwar hilfreich, auch eine Beschäftigung des Körpers bei Hunger, aber für die Zähne Gift. Er appellierte an die Haiti-Kinderhilfe, dringend das bereits beschlossene, aber wegen des Erdbebens auf Eis gelegte Zahnbehandlungsprogramm umzusetzen.














Kenlove, fünf Jahre alt, Krätze
Für etwa zehn Kinder suchen wir noch nach Behandlungsmöglichkeiten, die Dr. Bontemps nicht zur Verfügung stehen. So benötigt ein Junge dringend eine Knieoperation, auch zwei, drei andere bräuchten eine längerfristige stationäre Behandlung. Etwa zehn Kinder sollten an den Augen operiert werden. MVM sucht für all diese Einzelfälle noch Fonds, um diese Klinikaufenthalte bezahlen zu können. Ich habe den Kontakt zum Krankenhaus "Notre Dame de Lourdes" hergestellt, vielleicht können dort ja schon einige Behandlungen vorgenommen werden. Für die anderen fällt uns hoffentlich auch eine Lösung ein. Sollte sich der Andrang nicht allzu sehr erhöhen, reichen unsere bewilligten Mittel noch bis zum Jahresende. Dann müssen wir weiter sehen. Auf jeden Fall kann es nicht schaden, auch für diese wirklich dringend nötige, sinnvolle und humanitäre medizinische Hilfe Spenden zu sammeln.

Vielen Dank und liebe Grüße,
Stephan Krause

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