Freitagmorgen. Wir fuhren ganz früh los Richtung San Marc und machten
unsere Frühstückspause ca. 60 km nach Port au Prince, ca 10 km nach dem
Strandclub Indigo.
Als wir 1978 nach Haiti kamen, gab es bereits diesen
kleinen See. Damals total idyllisch in einem Palmenwald. Ich erinnere mich,
dass wir immer begeistert waren, von den Hunderten rosaroter Flamingos, die an
diesem See waren. Über die Jahre verschwand der See komplett, es wurde fast
alles abgeholzt.
Ein oder auch zwei Jahre vor dem Erdbeben stiegen
schlagartig die Seen im Landesinneren an. An der offiziellen Landesgrenze zur
Dominikanischen Republik, in Malpasse, waren die Häuser bis zum Dach im Wasser
und von den Palmen sah man nur noch die Kronen. Zur gleichen Zeit stieg auch
das Wasser wieder in diesem trockenen See. Nach meiner Erinnerung ist er jetzt
grösser als früher und der Wasserspiegel höher als damals, 1978. Dabei sind die
Seen mindestens 80 km Luftlinie voneinander entfernt. Sicherlich hatte man bei der
Veränderung des Wasserspiegels schon erkannt, dass eine Bewegung in der Erdkruste
ist, also ein Vorbote des Erdbebens.
Wir besuchten in San Marc zuerst die Schule St.
Fleurencent. Aus der vor Jahren kleinen Schule auf einem Berg, relativ
stadtauswärts, mehr für die dortigen Bauern gedacht, ist eine riesige Schule entstanden,
nun mitten in der Stadt. Es wird dort von der Grundschule bis zum Abitur
unterrichtet.
Unsere Patenkinder sind fast alle anwesend und wir können
die Fotos für die Pateneltern in Deutschland machen. Einige hatten immer noch
nicht ihre Schulunterlagen vom letzten Schuljahr abgegeben und es wird noch
schnell ein Dankesbrief geschrieben, damit wir auch ja für sie das Schulgeld
bezahlen.
Danach ging es zum Besuch in der Schule St. Trinite. Der
Direktor Jean Pierre bedankt sich immer wieder, dass wir wie versprochen seinen
vor Jahren begonnen Ausbau finanziert und fertiggestellt haben.
Es sind 3 Klassenräume und ein großer Zwischenraum
entstanden. Zwei Klassenzimmer sind mit einer großen faltbaren Tür verbunden
und es kann somit aus 2 Räumen bei Bedarf ein großer Saal gemacht werden. Es
ist alles sehr hell und die Trennmauern nur halbhoch, was ein sehr angenehmes
Klima schafft, da immer ein leichter Durchzug ist. Aber dafür ist es auch etwas
lauter. Wir übergeben alle Patenschaftsgeschenke, machen Fotos für die
Pateneltern und bezahlen die Schulgebühr. In der Schule ist auch der Treffpunkt
für die Patenkinder der anderen Schulen in San Marc. Es kommen alle. Völlig
überraschen kommt Schneider, jetzt ein junger Mann Ende 20, der auch vor Jahren
in unserem Programm war. Leider hörte er 1 Jahr vor dem Abitur auf, da er ein
Mädchen schwängerte und für seine kleine Familie sorgen wollte. Er schlägt sich
als Hilfslehrer für Englisch in verschiedenen Schulen in San Marc durch.
Es dauert alles immer etwas länger als geplant, und wir
wollen ja noch weiter nach Cap Haitienne. Aber da schon den ganzen Morgen die
Sekretärin mit zwei anderen Frauen für uns kocht, müssen wir zum Essen bleiben.
Es gibt Ziege, Salat mit Brunnenkresse, Kochbanane und den besten Reis mit
Bohnen, den ich jemals gegessen habe.
Die obligatorischen Kokosnüsse zum Trinken nehmen wir
mit. Monsieur Jean Pierres Gastfreundschaft ist jedes Mal unbeschreiblich.
Dann der Aufbruch in zu unserem „Ferientag“. Wenn wir in
Haiti sind, laden wir das Patenschaftskomitee regelmäßig zu solchen freien und
sorglosen Tagen ein, als Dankeschön für die Verlässlichkeit und Verantwortung,
mit denen sie uns in Haiti im Patenschaftsprogramm und vielen anderen Projekten
unterstützen. Diese Erlebnisse schweißen die Gruppe auch regelrecht zusammen.
Die Straße von San Marc nach Gonaive ist neu gemacht und
wunderbar. Ich erinnere mich, dass es früher die Reisebene war, es gab auch sehr
viele Felder mit Baumwolle.
Drei Viertel der Ebene ist nur noch Steppe, wie Wüste.
Anscheinend hat der Hurrikan Jeanne viel zerstört. Da die Berge alle abgeholzt
sind, werden sich diese Naturkatastrophen ständig wiederholen. Nach Gonaive
wird die Straße miserabel. Teilweise abgebrochen, ein Schlagloch am anderen,
extrem bergig. Es kommen uns immer wieder riesige Tanklastzüge und
Containerlastwagen entgegen. Wir müssen oft anhalten und in einer Kurve kam ein
Container uns extrem nahe. Wir hatten rechts nur den Abgrund, und Rachelle verabschiedete
sich ganz schnell von ihrer Mutter, da sie dachte, wir müssten jetzt sterben.
Es kam leichter Regen auf, wir waren in Sorge um unsere vier
Studenten auf der Ladefläche, aber auch um unsere ganzen Kartons mit den Unterlagen
für Billiguy. Es wurde schlagartig stockdunkel und wir hängten uns an die Stoßstange
eines Autos vor uns, damit wir besser die Schlaglöcher sahen. Nachts fahren,
auf kaputten Straßen, ohne Begrenzung und Mittelstreifen ist grenzwertig. Immer
wieder „Könige der Landstraße“ (LKW und Busse), die einfach mit Hupe und vollem
Licht dahinbrettern. Wir erreichen Cap Haitienne, auch hier ist die Stadt
explodiert. Ein Gewusel, Gehupe, Mopeds, Menschenmengen – wir tanken und fragen
uns durch. In Cap Haitienne sind die Straßen
wie ein Schachbrett angelegt. Buchstaben horizontal, Zahlen vertikal. An der Straße
21 biegen wir links ab, durch kleine Gassen, dann wieder eine Sandstraße über
einen Berg und irgendwann hören wir das Rauschen des Meeres. Hier irgendwo hat
Rachelle für uns reserviert.
Wir haben ein ganzes Haus für uns. Die fünf Männer extra
und wir drei Frauen extra. Luxus! Wir haben vier Bäder...
Es gibt einen traditionellen Eintopf. Ziegenfleisch, viel
Blattgemüse, Maniok und „Doumbroille“, das sind eine Art Schupfnudeln, gemacht
aus Mehl, Gewürzen und salzigem Wasser, wunderbar gewürzt mit Nelken. Wir
bekommen zu acht drei riesige Suppenschüsseln, und man kann ruhig sagen, dass
wir uns auf das Essen stürzen! Hier kann man hemmungslos dreimal Nachschlag
nehmen. Es gibt auch eiskaltes Bier und Limo. Wir haben eine wunderbare
Stimmung, fallen todmüde ins Bett und schlafen alle wie Engelchen.
Am Samstagmorgen gibt es einheimischen Maisbrei, auch
wieder mit Blattgemüse und leckeren Avocados. Es schmeckt wunderbar. Wir
frühstücken direkt am Meer.
Conny, Guivens, Guerino, Benson, Guinther, Laumenaire und
Rachelle wollen nach Labadie. Es ist einige Kilometer entfernt. Labadie ist der
Punkt im Norden von Haiti, wo die großen Schiffe ankern, die Touristen dann mit
Booten auf kleine Inselchen vor Labadie bringen, mit einem durch Stacheldraht
abgegrenzten Strand. Sie fallen da wie Heuschrecken einige Stunden ein, werden
verwöhnt, einige fahren Jet Ski. Früher wurde ihnen nicht einmal gesagt, dass
sie in Haiti sind, sondern in Sun-Island. Auf größeren Booten und im sicheren
Abstand können dann die Touristen mit Fernstecher und Teleobjektiv an dem Dorf
Labadie vorbeifahren und sich die romantisch-bunte Armut ansehen.
Ich selbst bleibe in unserer Unterkunft. Ich lasse mir
mein Bett auf die Veranda bringen und werde Stunden nur schlafen. Bin irgendwie
platt. Ich stelle fest, dass mein Gehirn in der Hitze nur ganz langsam
funktioniert. Arbeite schon ein bisschen unsere Unterlagen von San Marc auf,
aber, wie gesagt, mit großer Blockade.
Am Abend gibt es Fisch in Soße und wieder Reis,
Kochbananen, scharfes Pickles. Nach dem Essen schlägt Laumenaire ein Spiel vor.
Die Hände auf den Tisch, immer in Reihe klatschen, bei 2x klatschen die
Richtung wechseln. Bei einem Fehler muss man eine Hand aus dem Spiel nehmen.
(Offensichtlich ein internationales Spiel, bei uns ja auch bekannt – Anm. der
Red.)
Wir lachen viel und haben eine wunderbare Zeit, ohne
Geld. Das finde ich immer wieder beeindruckend, wie jeder spontan mitmacht. Wie
die Gruppe immer zusammen hält. Wie viel laut und herzlich gelacht wird, immer
wieder gesungen wird, Spaß und Freude am Leben ist, obwohl jeder ein großes
Päckchen an Kummer und Sorgen zu tragen hat.
Vor dem Schlafen spielt Guinther Gitarre, es wird gesungen – es war ein
weiterer schöner Tag.
Sonntag, Rückreise. Frühstück um 7 Uhr, es gibt Spagetti
und Papaya. Wir sind schon um 9 Uhr in Milot und alle außer mir marschieren los
auf die Zitadelle.
Wir haben uns einen Führer genommen und somit auch einen
Schutz, dass nicht jeder Anwohner doch noch versucht einen Job zu bekommen.
Ich bleibe lieber auf dem Parkplatz, da unser Pick-up
voll beladen ist.
Pünktlich geht es zurück Milot, dann nach Hinche. Es ist
schlimmste off-road. Nicht einmal Sandpiste, sondern wie ein Reibeisen. Die
Straße ist durch die Regenzeit so ausgewaschen, dass wirklich nur die Steine
sichtbar sind. Schlaglöcher, enge Furten, steile Berge, entgegenkommende,
überladene LKWs.
Jedes Mal, wenn ein Auto vorbei fährt, ersticken wir im Staub
und haben für einen Moment keine Sicht. Das Auto quietscht, vier müssen hinten auf
der Ladefläche sitzen und sie werden jedes Mal gegen die Ladewände geworfen.
Wir machen einen Stopp an einem kleinen Bach, Kinder baden, Frauen waschen
Wäsche. Es hält ein LKW und ca. 50 Männer steigend johlend und schreiend ab und
marschieren direkt auf uns zu. Mir wird echt mulmig und ich denke, dass wir nun
ausgeplündert werden. Sie kommen zwar alle vorbei, schauen und sprechen uns an.
Sie kommen aber von einer Beerdigung und durch den Fluss führt ihr Weg nach
Hause.
Weiter, die Zeit drängt. Rachelle, Guinther, Benson und
Laumenaire wollen einen Bus in Hinche nach Port au Prince nehmen.
In St. Raphael ist die Durchfahrt durch die Stadt
wunderbar betoniert. Wir fahren geradeaus weiter, gleicher Straßenzustand,
brütend heiß, trostlos. Im nächst größeren Ort fragen wir einige Männer, wie
weit es noch bis Hinche ist. Sie erklären uns, dass wir total verkehrt sind und
zurück nach St. Raphael und dort bei der Kirche links abbiegen müssen.
Wir sind geschockt, eineinhalb Stunden verloren,
insgesamt 42 km Piste umsonst. In St. Raphael kann uns keiner genau sagen, wie
weit es sein wird. Die Angaben reichen von zwei bis fünf Stunden.
Die Straße ist noch schlechter, vor allem noch enger.
Ohne Halt, gegen die Zeit, aber körperlich alle schon total fertig kommen wir 5
Minuten vor 17 Uhr in Hinche an und unsere Vier bekommen noch die letzten
Plätze im Bus nach Port au Prince, der auch sofort losfährt. Wir sind
erleichtert, dass es doch irgendwie geklappt hat.
Guivens und Guerino fahren mit uns nach Maissade. Wir
kaufen noch Trinkwasser und erreichen Maissade in der Dunkelheit.
Wir sind zwar eingeladen bei Pastor Colas zu schlafen,
aber irgendwie möchten wir doch gerne unabhängig sein. Es soll ein Hotel geben
und wir finden es sofort neben der Kirche. Momentan eine Baustelle, aber ein
Teil sei schon fertig. Eigentlich grauenhaft, noch überall der Zementfilm, die
Matratzen noch in Plastik, wir sind die ersten, die hier anfragen. Wir suchen
uns ein Zimmer aus, verhandeln allerdings noch lange um den Preis, und auch,
dass wir gerne Wasser zum Duschen hätten. Irgendwo kommt etwas kaltes Wasser,
wir sind glücklich, wir haben ein Bett. Wir fahren nun zu Pastor Colas, es ist
alles stockdunkel in Maissade, es gibt zwar schon Stromkabel, aber die
Transformer sind durchgebrannt. Es laufen Generatoren, es ist brutal laut und
heiß, Unmengen von Kindern laufen im Haus herum, man bietet uns eine sehr
saubere Schlafgelegenheit an, sind aber froh, ein Bett in unserer Baustelle
gefunden zu haben. Wir planen noch den kommenden Tag und fallen todmüde ins
Bett.
Roswitha Weiß
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